Ich bin ein Zeitreisender

Im Auto auf dem Weg hin oder auch von wo auch immer. Beim Gemüseschnippeln in der Küche. Im kleinem Laden unten an der Ecke. Oder am Schreibtisch, im Büro, mit den Kopfhörern aufm Kopf. Radio. Die letzte wirkliche Bastion in Sachen Musik und Information. Mal abgesehen vom alltäglichen Mainstream kann Dir die mannigfaltige Senderlandschaft da draußen wahrhaftige Zeitreisen ermöglichen. Spontane Zeitreisen. Ohne Gepäck, ad hoc und ohne Rücktrittsversicherung. Denk Dich da einfach mal rein. Du tust irgendwas. Und plötzlich kommt da dieser eine Song im Radio. Einer der Dich mitnimmt und alles andere vergessen lässt. Und – bämm – du bist weg – weit weg.

„Sisters of Mercy“ mit „Temple of Love“ zum Beispiel. Ich war 16 oder 17 und durfte das in das erste Mal in die Disco. „Jolly Bubble“ hieß der Laden. Mir ist als wäre es gestern gewesen. Der Druck der Bässe, die irre Lichtshow, der künstliche Nebel und natürlich auch die Auswüchse meiner Pubertät – ich war high – auch ohne Rauschmittel. Den Laden gibt es schon Ewigkeiten nicht mehr.

Oder „Four Non Blondes“ mit „What’s Up“. Da war ich auch um die 17 Jahre alt. Kurz vor dem Umzug weg von Rügen, weg von Saßnitz, weg von meiner Heimat. Ihr Name war Sandra. In die Parallelklasse ging sie. Oben an der Straße zur Schule trafen wir uns hin und wieder. Wie auch an jenem Tag an dem Sie nach meinem Walkman fragte. Ich reichte ihr die Kopfhörer. Sie lauschte und sang ganz unbefangen diesen Song. „What’s Up“! Sie hatte Rauch in der Stimme. Alles andere ist verblasst. Höre ich den Song heute, bin ich schlagartig wieder an der Ecke oben an der Straße kurz vor der Schule.

Das Gro an Zeitreisen haben meine Kindheit und Jugend zum Ziel gehabt. Am FKK in Glowe hörte man die Ferienwelle. Aus dem kleinem schwarzen Weltempfänger trällerte unteranderem das Italo Pop Duo „Al Bano & Romina Power“ ihren Frohmut in die Welt hinaus. Das „Electric Light Orchestra“ war mein Weggefährte auf stürmischen Strandspaziergängen im Winterlichen Dänemark. „Westbam“ und „Motte“ – stehen für mich für ein buntes Berlin. Ganze 4 Mal hab ich auf der Loveparade mitgeraved. „No Doubt“ und „Tony Braxton“ hingegen erwärmen mir mein Herz. Waren sie doch aktuell, als ich meine große Liebe kennen lernte. Das alles sind Initialzündungen und der Treibstoff für meine Zeitreisen.

Und jetzt noch ein Tipp vom Reiseveranstalter. Man kann sich auch bewusst beziehungsweise geplant auf Reise begeben. Kramt einfach mal in Euren alten Musiksammlungen. Schallplatte und Kassette tun es auch. Und ab geht der Trip. Viel Spaß dabei und guten Flug.

Der letzte Held der Kindheit

Erst im Alter kommt die wahre Reife, um auf Vergangenes zurück zu blicken. Alt ist man deswegen noch lange nicht. Doch es reicht manchmal, um hin und wieder über längst passierte Ereignisse aus jungen Jahren zu senilen. So richtig knallen tut´s, wenn man mit Kraft die „Zeitreise“ erzwingt. Donnerstagabend. Punkt 20 Uhr in einer Rostocker Buchhandlung. Der Buschfunk Gleichgesinnter hatte es bereits vor Tagen in die kleine Welt der Teilzeit-Ostalgiker hinausposaunt.

Der letzte Held der Kindheit kommt nach Rostock, um über die Biografie des toten Freundes und Kollegen und eben den besagten, weit entfernten Erinnerungen zu berichten. In Vorfreude und mit 0-Ahnung, wie das Ganze vonstattengehen wird, trafen die üblichen Verdächtigen zwischen den Verkaufsreihen der angesagten Bestseller und einem Haufen ungeordnetem Kartenmaterial aufeinander. Händereibend wird Platz genommen und das anwesende Publikum gescannt. Und schon jetzt stellt sich das Gefühl der Zeitreise ein.

Im Gang nebenan sitzt ein graubärtiger Hüne von Mann. Die geringelten Socken und die betagten Sandalen schreien um Hilfe. Ihm hatte wohl niemand von dem Regengebiet erzählt, welches bereits die Straße vor dem Laden säuberte. Im Kontrast zum farbenfrohen Strumpfansatz stand das kleinkarierte Stückchen Stoff, welches sein Inhaber sicherlich als sein Lieblings-Niki betitelte. Hier treffen Welten aufeinander oder gehen aneinander vorbei. Eine Flasche Limonade, eine Schale Knusperflocken – und das Reiseziel Kindheit wäre erreicht gewesen.

Doch dann ist der Moment gekommen, und der Held betritt die Bühne. Die Menge applaudiert. Eine Dame mit Headset am Kopf nimmt dort oben Platz. Zu Ihr gesellt sich ein fast weißhaariger Mann. Wo ist der Held? Wer sind diese Menschen? Während sich das Frauenzimmer übers Kopfmikro als Moderatorin outet, geht ein Flüstern durch die Reihen. „Das ist er“. „Ja wirklich“. Was? Das Smartphone gezückt, den Googelator aktiviert und direkt den Wikitreffer angetoucht. Jupp. Das ist er! Memo an selbst: Fernsehstars altern auch. Und schon ist sie hin, die futuristische Reise zurück zur Flimmerkiste aus RFT-Beständen.

Der Abend hat sich trotzdem gelohnt. Das Bewusstsein, dass alles seine Zeit hat und hatte, wurde unweigerlich zum Fazit gemacht. Abgesehen davon, dass in naher Zukunft die komplette Staffel der Helden aus der Kindheit im heimischen Wohnkino Einzug halten wird. „Mächtig gewaltig“, Herr Morten Grunwald. Dankeschön für sehr viel!